Expert*innenkommentarzum Medium
Titel | Herzsprung. Wenn Liebe missbraucht wird |
Autor*in o. Projektleitung | Blobel, Brigitte |
Erscheinungsjahr u. Auflage | 2013, 1. Auflage (vorher in einem anderem Verlag; erstmals 1990) |
Umfang | 235 Seiten |
Land | Deutschland |
Verlag | Arena Taschenbuch |
ISBN | 3401027743 |
Bestellmöglichkeit | Buchhandel |
Preis | 5,00 € |
Medienformat/Form | Jugendbuch |
Angegebene Altersempfehlung | ab 12 Jahren |
Inhaltliche Beschreibung
Das Jugendbuch erzählt die Geschichte der fast 15-jährigen Nina. Nina wurde jahrelang von ihrem Stiefvater Michael sexuell missbraucht. Ihre Mutter weiß nichts davon, oder will nichts davon wissen, und auch ihre beste Freundin Carmen weiß es nicht. Einzig ihrer Lehrerin hat Nina sich im Alter von 11 Jahren offenbart, diese hat ihr jedoch nicht geglaubt und sie nicht geschützt.
Als Nina ihrem Klassenkameraden Flo näherkommt und die beiden sich ineinander verlieben, kommt Nina mit ihren Gefühlen stärker in Kontakt. Neben dem Gefühl des Verliebt seins, spürt sie Ekel, Verzweiflung und Abscheu gegenüber Michael. Durch das Vertrauen, welches sie zu Floh aufbaut, erzählt Nina schließlich von der Gewalt, die sie erlitten hat. Flo fühlt sich zunächst hilflos, kann jedoch mit seiner uneingeschränkten Empathie Nina darin unterstützen, aus ihrem Elternhaus zu Carmen und deren Mutter zu flüchten. Carmens Mutter glaubt Nina und bietet ihr Schutz.
Expert*innenkommentar zur Eignung des Materials für die primärpräventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Die Geschichte von Nina spielt sich vermutlich so oder ähnlich vielfach in Familien ab: Ein Stiefvater als Täter, eine Mutter, die wegschaut, ein sprachloses Kind und eine Umwelt, die weder über die Kenntnisse noch die Sensibilität verfügt, Ninas Situation richtig zu deuten und ihr Unterstützung anzubieten, die traumatische Situation zu beenden.
Auf der Ebene der Story-Line ist die Geschichte stringent erzählt und schlüssig zu einem (positiven) Ende geführt. Sie bietet Gesprächs- und Denkanlässe für den privaten und institutionellen Rahmen.
Die Figuren bleiben etwas stereotyp. Der Mann ist der Täter, der Klassenkamerad der Retter, die Mutter und die Lehrerin die handlungsunfähigen Frauen. Am Ende zeigt sich die Mutter der Klassenkameradin allerdings als orientiert und interventionsfähig und setzt dem Täter Grenzen.
Sehr differenziert wird in der Geschichte aufgezeigt, wie viele indirekte und direkte Versuche des Hilfe-Holens Betroffene unternehmen müssen, bis sie letztendlich Hilfe finden.
Sehr einfühlsam ist im Jugendbuch auch die sensible Geschichte der ersten Liebe dargestellt, die dem Missbrauchsgeschehen durch den Stiefvater gegenübersteht.
Bei der Arbeit mit dem Jugendbuch ist es wichtig zu berücksichtigen, ob die Sprache der Übergriffsbeschreibungen für die jeweilige Zielgruppe geeignet ist. Im vorliegenden Jugendbuch werden die Übergriffe nicht schlicht abgebildet. Eine realistische Darstellung ist wichtig, sollte aber nicht in Horrorvorstellungen hineinführen. Am Ende des Buches bedient sich ausgerechnet Carmens Mutter einer verbalen Invasion, indem sie Nina verspricht: „Die Liebe kann Schmerzen heilen.“ und hinzufügt: „Eines Tages wirst du merken, dass ich recht habe.“ Dieser Schluss und die Darstellung der Übergriffssituationen werden dem in dieser Geschichte dargestellten Machtmissbrauchs und der daraus resultierenden Traumatisierung nicht gerecht.
„Herzsprung“ richtet sich von der Aufmachung und dem Schreibstil an die Gruppe der 12 bis 15jährigen.
Es empfiehlt sich, das Buch nur in Begleitung durch Erwachsene an Kinder und Jugendliche auszuhändigen. Es sollten ausreichend Gesprächsangebote zur Verfügung gestellt werden.
Das Buch empfiehlt sich auch für Erwachsene, unter Berücksichtigung der oben genannten Kritik, die in Kontakt mit den Lebensperspektiven von Jugendlichen in Berührung kommen möchten.
Das Buch ist für die Zielgruppe der erwachsenen Multiplikator*innen und Interessierten als Ausgangspunkt für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierte Gewalt gut geeignet. Die aufgezeigten Kritikpunkte lassen sich durch ergänzende Informationen oder durch gemeinsame Beleuchtung der Punkte mit Jugendlichen relativieren.
Informationen zum Kommentar
Die Inhaltsangaben und Expert*innenkommentare wurden von Tandems, bestehend aus Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis, vor dem Hintergrund ihrer fachlichen Perspektive vorgenommen und vom Forschungsteam redaktionell überarbeitet. mehr
Empowermentkritik
Empowerment ist ein bedeutsamer Ansatz, allerdings dürfen dabei reale Machtverhältnisse nicht ausgeblendet werden. Es besteht eine Diskrepanz zwischen subjektiv gestärkter Vorstellung von Selbstbestimmung und Wirkmächtigkeit auf der einen und realer Ohnmacht gegenüber Gewalthandlungen von Täter*innen auf der anderen Seite. Dies kann die Selbstzuschreibung von Verantwortung für die Tat und Schuldgefühle bei Opfern sexualisierter Gewalt massiv verstärken.