Dr. Ludger Kotthoff
Dr. Ludger Kotthoff ist Akademischer Oberrat am Fachbereich Psychologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und langjähriges Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Projekts Kinderschutzportal.
Mehr erfahrenWenn man versucht Hinweise auf möglichen Missbrauch richtig zu deuten, muss man sich vor einem gegenläufigen Fehler hüten: Einerseits die Äußerungen des Kindes oder bestimmte Verhaltensweisen nicht ernst genug zu nehmen, andererseits Hinweise und Anzeichen überzuinterpretieren und damit zu falschen Schlussfolgerungen zu gelangen. Beide Arten von Fehlern gehen zu Lasten des betroffenen Kindes. Schwierig ist folgendes:
Die Diagnose beginnt mit der sorgfältigen Bewertung der Verdachtsmomente. Verdacht auf sexuellen Missbrauch kann bestehen,
Sexuelle Gewalttaten können vom Täter bzw. der Täterin auch ohne physische Gewalt ausgeübt werden und hinterlassen somit keine „Spuren“ am Körper des Kindes. Steht der Missbrauchende z.B. in einer engen Beziehung zum Opfer, so erreicht er nicht selten allein durch psychischen Druck die Gefügigkeit des Opfers.
So genannte „Hands-off“-Handlungen wie Exhibitionismus, das erzwungene Anschauen von Pornofilmen oder Voyerismus können ohne direkten Körperkontakt stattfinden. Dennoch kommt es in vielen Fällen, oft zunehmend mit steigendem Alter des Kindes, auch zu körperlicher Gewalt durch den Täter bzw. die Täterin. Die physische Gewaltanwendung, die das Opfer entweder durch die Handlungen des Missbrauchs selbst erleidet oder die der Täter bzw. die Täterin gezielt zur Einschüchterung einsetzt, reichen von Verletzungen im Genitalbereich bis zu massiven Schädigungen des gesamten Körpers. Auch Geschlechtskrankheiten, Aids und Schwangerschaft können Folge sexueller Gewalt sein.
Die körperliche Untersuchung bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch muss daher durch einen erfahrenen, einfühlsamen Kinderarzt erfolgen, der nach Hämatomen, Rötungen, Schwellungen, Abschürfungen, Bissspuren oder anderen Verletzungen oder Symptomen, vorwiegend im Genitalbereich, sucht.
Der Rahmen der psychologischen Untersuchung muss kindgerecht und motivierend mit angemessenem Spielangebot gestaltet sein.
Der/die Untersuchende sollte empathisch mit dem Kind umgehen und das Augenmerk auf die Unterstützung des Kindes richten und weniger „etwas herausfinden“ wollen. Suggestive Fragen sollten in jedem Fall vermieden werden. Sie führen zu falschen Schlussfolgerungen und fördern den Widerstand des Kindes gegen die Untersuchung. Die Wertschätzung des Kindes und die empathische Einfühlung des/der Untersuchenden sind Voraussetzung für eine angemessen psychologische Untersuchung.
Es gibt bekanntlich kein einheitliches Symptombild, das die Identifikation einer Betroffenheit von sexualisierter Gewalt nahelegt. Die Bewältigungsversuche nach erlebter sexualisierter Gewalt sind so vielfältig wie die Jungen selbst. Wichtig ist, dass bei der Wahrnehmung dessen, was Jungen zeigen, die Möglichkeit zugrunde liegender Belastungen mitgedacht wird (Mosser, 2009). Was ist mit einem Jungen los, der sich zurückzieht, der immer stiller wird, der sich zunehmend aggressiv verhält, der sich einer sexualisierten Sprache bemächtigt? Es muss in Betracht gezogen werden, dass all diese Verhaltensweisen Signalcharakter haben können. Jungen befinden sich in ihrem Bewältigungsverhalten in einem Dilemma: Ziehen sie sich zurück, so fallen sie nicht weiter auf. Agieren sie ihre Belastungen offensiv aus, so werden sie als Störer, Provokateure, eben als „schwierige Jungs“ gesehen und entsprechend behandelt. Die Tragik dieses Bewältigungsverhaltens besteht darin, dass die Jungen nicht annähernd das bekommen, was sie brauchen: Statt Zuwendung und Beziehung wird von Seiten der Erwachsenen mit Sanktionen und Abwertung reagiert. Solange sowohl die Jungen als auch die Erwachsenen in geschlechtstypischen Wahrnehmungsschemata gefangen bleiben, kann kein hilfreicher Kontakt aufgebaut werden. Es ist unabdingbar, dass auffälliges Verhalten so früh wie möglich als Bewältigungshandeln interpretiert wird und zugrunde liegende Belastungen aufgespürt werden.
Gramel,S. (2008): Die Darstellung von guten und schlechten Beziehungen auf Kinderzeichnungen. Zeichnerische Differenziehung unterschiedlicher Beziehungsqualitäten. Hamburg.
Greul,L. (1998): Anatomische Puppen. -Zur Kontroverse um ein diagnostisches Mittel. In: Amann,G., Wipplinger,R., (Hrsg.) Sexueller Missbrauch. Tübingen.
Ihli,D. (2000): Die Bedeutung von Kinderzeichnungen bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Eine kritische Analyse aus grundlagenpsychologischer Sicht. Regensburg.
Lenz, H.-J. (2007): Gewalt und Geschlechterverhältnis aus männlicher Sicht. In: S.B. Gahleitner & H.-J. Lenz (Hrsg.), Gewalt und Geschlechterverhältnis. Interdisziplinäre und geschlechtssensible Analysen und Perspektiven, (S. 21 –51). Weinheim und München: Juventa
Mosser, P. (2009): Sexueller Missbrauch als möglicher biographischer Hintergrund verhaltensauffälliger Jungen. In W. Wiater & D. Menzel (Hrsg.). Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in der Regelschule, Band 3: Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensbesonderheiten.
Volbert,R. (1998): Sexuelles Verhalten von Kindern: Normale Entwicklung oder Indikator für sexuellen Missbrauch? In: Amann,G., Wipplinger,R., (Hrsg.) Sexueller Missbrauch. Tübingen.